Lebendiges Abendland: Ursprung und Wesen des russischen Marxismus | | Печать | |
Автор Frank Semen | |
25.07.2017 г. | |
Текст на немецком языке
Betrachtet man den Ursprung, die Entwicklungsgeschichte und das Wesen des russischen Marxismus, so sieht man sofort ein, dass auch er eine Erscheinungsform des großen Ringens des russischen Denkens um das Problem «Russland und das Abendland» ist. Der russische Marxismus, wie der russische Sozialismus überhaupt[1], ist an sich[2], selbstverständlich abendländischer Abstammung. Seine Vertreter gehören mithin zu den sogenannten «Westlern» – zu Geistern, die das Heil Russlands in der Nachfolge des abendländischen Kulturweges erblicken[3]. Trotz diesem westlichen Ursprunge trat der russische Sozialismus zunächst in einer ganz eigenartigen nationalen Gestalt auf. Bis auf die 90er Jahre herrschte nämlich die Auffassung, dass Russland, das kaum in den ersten Anfängen seiner Industrialisierung stand, gar nicht benötige, den Leidensweg des Kapitalismus zu betreten, um, nach dem klassischen Schema von Marx, zum sozialistischen Endziele zu gelangen. Alle von Marx geschilderten Schrecken der Proletarisierung und des Klassenkampfes können und müssen Russland erspart bleiben. Eben wegen seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit wäre Russland die Chance gegeben – ausgehend von der urwüchsigen Institution seiner Bauergemeinde mit ihrem primitiven Kommunismus – auf friedlichem Wege zu einer allumfassenden sozialistischen Gemeinschaft zu gelangen. Sie sehen: diese erste Form des russischen Sozialismus war doch eine eigenartige Anwendung an das sozialwirtschaftliche und sozialpolitische Gebiet des Grundgedankens der «Slawophilen» (von dem ich in meinem ersten Vortrage sprach), dass Russland das Privileg zukomme, einen ungebrochen-harmonischen, organischen Lebens- und Kulturweg zu beschreiten, von dem das Abendland schon längst abgegangen sei. Im Gegensatz zu dieser Richtung entstand in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts – in der Zeit des Beginnes einer raschen Industrialisierung und ihrer Begleiterscheinung, der Arbeiterbewegung – der eigentliche russische Marxismus im prägnanten Sinne des Wortes. Im Gegensatz zu[4] seinen, sozusagen, romantisch-idyllischen Vorgänger trat er auf, als Ausdruck[5] eines folgerichtigen Westlertums – der Auffassung, dass Russland das Lebensschicksal und den Kulturweg des Abendlandes teilen müsse[6]. Er behauptete nämlich, dass Russland sich schon im unaufhaltsamen Entwicklungsprozess zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung befinde und dass es eben nur auf diesem Leidenswege, durch Bildung eines Klassenbewussten städtischen Proletariats zum sozialistischen Endziele gelangen könne. In politischer Hinsicht behauptete er, der Weg zum Sozialismus führe, nach abendländischem Vorbilde, zunächst durch bürgerliche Demokratie – das heißt, erfordere Erlangung von politischer Freiheit. Es wurde damals auch eine russische sozialdemokratische Partei nach deutschem Muster gegründet. Bevor wir die weitere Entwicklung des russischen Marxismus verfolgen, möchte ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit auf die allgemeine sozialphilosophische Grundlage des Marxismus lenken. Der Marxismus – wie jeder Sozialismus – wirft bekanntlich der kapitalistisch-bürgerlichen, auf Privateigentum und wirtschaftlicher Initiative des Einzelmenschen gegründeten Ordnung vor, sie führe zu einer heillosen Anarchie des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, zum Kampfe aller gegen alle. Und er stellt im Gegensatz zu ihr das Ideal der sozialistischen Lebensordnung auf, in der Produktion und Güteverteilung der Gemeinschaft, als eines harmonischen Ganzen, vernünftig im allgemeinen Interesse geleitet werde. Man meint gewöhnlich, dass mithin die[7] philosophische Grundlage des Marxismus eben die Idee der Gemeinschaft sei, der urwüchsig-spontanen Zusammengehörigkeit der Menschen zu einem organischen Ganzen – im Gegensatz zu einer individualistisch-atomistischen Lebensauffassung. Es gibt Formen des sozialistischen Denkens, von denen man dies wirklich mit Recht behaupten könnte. Es ist im höchsten Masse wesentlich, sich bewusst zu werden, dass dies gerade vom Marxismus nicht gilt. Entgegen der üblichen Meinung, stützt er sich gerade auf eine individualistisch-atomistische Lebensphilosophie. Er verneint eben, dass der Mensch gleichsam von Haus aus ein Gemeinschaftswesen sei, den Beruf zur Gemeinschaft von sich aus spontan besitze. Sich selber überlassen, seien die Menschen im Gegenteil Egoisten, die nur ihre Eigeninteressen verfolgen und sich gegenseitig bekämpfen. Er betrachtet die Menschen, gewissermaßen, als Einzelatome, die nur blind gegeneinander stoßen und auseinanderprallen können. Gerade deswegen müsse man sie zur Gemeinschaft zwingen, gleichsam die chaotische Atomenmenge zusammenkleben, um aus ihr ein geordnetes vernünftiges Ganzes zu bilden. Dass so gebildete Ganze ist deshalb kein organisches, durch innere Kräfte zusammengehaltenes, Gefüge; es ist eine künstlich aufgebaute große Sozialmaschine, in der die Menschen gezwungen werden, als Einzelräder zweckmäßig dem Ganzen zu dienen. Diese atomistisch-mechanistische Philosophie beherrscht die gesamte sozialpolitische Doktrin und Praxis des Marxismus. Die Einzelpersönlichkeit ist in ihr[8] nur Mittel, nie Endzweck. Ordnung kann hier nur auf Kosten der Freiheit erreicht werden. Eben deshalb wird hier Diktatur, totalitärer Staat zur einzig möglichen normalen sozialpolitischen Verfassung. Bei Marx selber war dieser Wesenszug seiner Lehre doch gemildert durch eine andere Ideentendenz, nämlich durch den – der Hegelschen Philosophie entnommen – Glauben, die Geschichte werde von tief-inneren immanenten Entwicklungskräften geleitet. Wenn er auch dabei einseitig nur an Kräfte der wirtschaftlichen Entwicklung dachte, ohne die Wirkung geistiger Schöpfungspotenzen zu berücksichtigen, so erhielt doch reine Doktrin das Gepräge einer evolutionistischen Anschauung. Die sozialistische Ordnung sollte aus dem Schosse der kapitalistischen Entwicklung gewissermaßen spontan entstehen; und die soziale Revolution – die Diktatur des Proletariats – dachte er sich, als eine nur kurze Übergangsepisode. Es war einem russischen Marxisten von fanatisch-revolutionärem Temperamente beschieden, – unter bewusster Vernachlässigung dieser anderen, evolutionistischen Idee der Marx‘schen Lehre, – folgerichtig das mechanistische, mithin revolutionäre Element des Marxismus zu entwickeln und praktisch-politisch zu verwerten[9]. Lenin trennte sich 1903 von der russischen, nach westlichen Vorbilde gebauten[10] Sozialdemokratie und gründete seine eigene, bolschewistische oder kommunistische Partei. Seine Grundidee dabei war, dass man – eine zúfällige[11] gǘnstige politische Situation ausnutzend – durch eine Umwälzung, durch einen Massenaufstand – direkt zum Sozialismus gelangen könne. Bekanntlich gelang es Lenin, sein Ziel mit unerwartetem Erfolge zu erreichen. Mit dem in Russland zur Herrschaft gelangten bolschewistischen Marxismus trennte sich aber Russland wiederum vom abendländischen Kulturwege – damit führte uns der Gang unserer Betrachtung zurück zu unserem Hauptthema – «Russland und das Abendland». Lenins Erfolg hat die Marx’sche These, der Sozialismus werde als reife Frucht des Hochkapitalismus entstehen, schlagend widerlegt. Die hochentwickelte bürgerliche Kultur des Westens mit ihrer althergebrachten Tradition von Privateigentum, Rechtsstaat und persönlicher Freiheit hat zwar die Tendenz, sich zu einer sozialen Demokratie zu entwickeln, erwies sich aber eben deshalb nicht als Nährboden, sondern als Hemmnis für einen integralen Kommunismus. Dagegen hat der Kommunismus in wirtschaftlich und rechtlich rückständigen Russland mit überwiegender, in primitiven Verhältnissen lebender Landbevölkerung den Sieg davongetragen. Auch hat sich seither der Orient viel aufnahmefähiger für die kommunistische Idee erwiesen, als das Abendland. Dies bedeutet aber für den Bolschewismus, dass nicht dem Abendlande, sondern[12] dem Osten die Führung der Menschheit zum sozialistischen Erdenparadiese gehörte. Lenin und seine Nachfolger wurden sich dessen voll bewusst: Der Geist des Ostens müsse gegen den Geist des Westens mobilisiert werden, um ihn zu besiegen und mit sich hinzureißen. So entstand – paradoxerweise – im russischen revolutionären Marxismus in neuer Gestalt die alte slawophile Idee – die primitive Lebensfrischheit des Ostens müsse die Menschheit von der Dekadenz des Westens erlösen. Die Botschaft aber, die Russland dem Westen bringt, ist nun nicht die eines Gott erfüllten, auf christlicher Liebe gegründeten Gemeinschaftslebens, sondern die des selbstbewussten Eigenwillens, der durch pl̗ánmässige Organisierung des Massenmenschen den neuen Babelturm erbaut. Das Licht vom Osten: Was für ein Licht ist dies aber? Die tiefste Fassung dieser Frage gelang[13] dem russischen Denker und Dichter[14] Wladimir Solowjew (von dem ich voriges Mal sprach) in seinem Gedichte «Das Licht vom Osten». Es war gegen die hochtragenden Ansprüche der russischen nationalen Monarchie gerichtet, erhält aber gerade jetzt einen besonders prägnanten Sinn. Ich kann es leider nur in prosaischer Übersetzung anführen. «Vom Osten das Licht, vom Osten die Kräfte. Und zur Weltherrschaft bereit, jagt der Persenkönig seine Sklavenhorden nach Griechenland. Doch nicht vergébens ist Hellas die heilige Prometheusgabe zu Teil geworden: die Sklavenhorden flüchten zitternd vor einer Handvoll héldenmütiger Bürger. Die mazedonische Falange und Roms Adler dringen bis zum Indus vor[15]. Und auf den allmenschliche Grundlage von Recht und Vernunft baut sich das Reich des Westens auf, und Rom wird zum Herrscher der Welt. Was fehlte nun noch? Weshalb ist die Welt wieder in Gährung? Die Weltseele sehnte sich nach dem Geiste der Liebe und Wahrheit. Und[16] nicht trügerisch ist das prophetische Wort: ein neues Licht erstand vom Osten, verkündend das, was unmöglich schien[17]. Und dieses Licht, im Osten erleuchtend, voll von Wunderzeichen und Kräften, verbreitet sich nach dem Westen, und vereint den Westen mit dem Osten. – Russland: Du trägst dich mit stolzen Gedanken über deine Berufung. Was für ein Osten willst du aber sein – der Osten von Xerxes oder von Christus?» [1] Зачеркнутый вариант: [нрзб.] der russische [нрзб.]. [2] Зачеркнутый вариант: im Ganzen genommen. [3] Зачеркнутый вариант: der abendländischen [нрзб.]. Zuerst war es der französische Sozialismus, der die russische Jugend begeisterte. Seit den [нрзб.] 70er Jahren steht aber das russische sozialistische Denken unter dem ausschließlichen Einflusse des deutschen Sozialismus von Marx und Lassalle. [4] Зачеркнутый вариант: Von. [5] Зачеркнутый вариант: unterschied er sich [нрзб.] durch seinen [нрзб.] Realismus; zugleich ist er [нрзб.] [6] Конец первого листа. [7] Далее зачеркнуто: theoretische. [8] Конец второго листа. [9] Зачеркнутый вариант: verwirklichen. [10] Зачеркнутый вариант: aufgebauten. [11] Здесь и далее сохранены авторские ударения. [12] Конец третьего листа. [13] Зачеркнутый вариант: beste Antwort darauf gab. [14] Зачеркнутый вариант: Prophet. [15] Зачеркнутый вариант: [нрзб.]. [16] Зачеркнутый вариант: doch. [17] Далее зачеркнуто: den Geist der Liebe. |
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